der berühmte mathematiker herr weisch

"dem lutz sein meinung", omni nr. 8, juli 2003


 

Kennt ihr Herrn Weisch, den berühmten Mathematiker? Der mit dem Satz von Bolzano-Weiherstrass-Weisch? Der zählt noch zu meinen lebendigsten Erinnerungen an die frühen 90er Jahre, als ich nicht nur das Vordiplom zu meistern hatte, sondern auch noch eine neue Stadt in einem neuen Landstrich mitsamt ihren Absonderlichkeiten. Dass ich damals noch zumindest für 20 Pfennig mitdenken konnte, hat sich bezahlt gemacht, sowohl in Bezug auf das Vordiplom als auch auf meine Anfangserfolge im Hinblick auf Integration. Aber es hat dennoch ein gutes Semester gedauert, bis von meiner anfänglichen Bewunderung für einen so oft zitierten Gelehrten wie Herrn Weisch nur ein Kopfschütteln übrigblieb. "Ei des machsch am gschicktesde mit dem Satz von Bolzano-Weiherstrass, weisch. Und danach nimmsch den Satz von Eudoxos, weisch" - für den Neu-Badener können solche Sätze aus Tutoren-Mund im katastrophalen Missverständnis enden.

Und das nicht nur im akademisch-badischen, sondern auch im kulinarisch-badischen Umfeld. Für immer prägend waren die vergeblichen Versuche, am Werderplatz anstatt eines fassungslos-strafenden Blicks seitens der Bäckereifachverkäuferin zwei ordinäre Brötchen zu bekommen. Diese Service-Dienstleistung war zwingend verbunden mit der Nennung der Backware im regional gebräuchlichen Idiom - allein der Hunger zwang mich zu dessen Aneignung: nicht landesübliche Bestellungen wurden mit Ignoranz bedacht. Wobei sich die Geheimnisse der badischen Brötchen-Vielfalt mir bis zum bitteren Ende nie ganz erschlossen, was aber auch gar nicht nötig war. Die Regeln sind nämlich einfach: zwei bis drei Silben lang etwas Beliebiges vor sich hinnuscheln, auf "-pselesweck" (für Brötchen) oder "-psele" (für sonstige Waren) enden und dabei schön langsam "Tatüüü-tataaa" denken. Das reicht für fast jede Art der Bestellung vollkommen aus. Gezieltes Draufzeigen, wie im letzten Urlaub erlernt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, das Gewünschte zu erhalten. Das "Tatütata" hilft zwar beim Simulieren des allgemein üblichen Singsangs, aber es ist eine Krücke: Die nervende Penetranz der Eingeborenen-Sprache wird man so nie erreichen.

Den besten Anschauungsunterricht dazu gibt es in Straßenbahnen, da, wo sich das Pack tummelt: Nur echte Badener können mit Kaugummi im Mund und Telefon in der Hand lauthals "Naddddiiiiieeen" durch die Bahn plärren und dabei das Kunststück vollbringen, diesen Namen auf der ersten Silbe zu betonen und dann Deutschlands kürzestem "d" das längste "i" der Welt folgen zu lassen. Das ist phonetisch eigentlich unmöglich, aber, wie so viel Unmögliches, in Baden gängige Praxis. Die vollkommene Unfähigkeit, ein französischstämmiges Wort auch nur annähernd französisch klingend auszusprechen, ist wahrscheinlich ein Abgrenzungsritual gegenüber dem Erbfeind. Das würde auch ein weiteres Rätsel lösen: Die oft vorgebrachte Bezeichnung der Badener als "frankophon" war ein akustischer Übertragungsfehler. Es muss "frankophob" heißen.

Ich bin ja jetzt nach Becksbier-City gezogen und schon wieder komplett überfordert. Es ist grausig: Wenn ich in der Bäckerei meiner mühsam antrainierten Gewohnheit folgend einen Wunsch äußere, erhalte ich neben den Brötchen vor allem Mitleid. Und die Straßenbahnen haben auch ihren integrativen Charakter eingebüßt. Zwar ist die ÖPNV-Begeisterung der Deppen hier mindestens genauso hoch, und sie sind auch genauso dämlich wie ihre Karlsruher Kollegen, aber sogar die Küsten-Deppen sprechen hochdeutsch. Das hat dann zur Folge, dass man deren in Worte gegossenen Stumpfsinn sogar verstehen kann, nein, sogar muss. Und das ist viel unangenehmer. Insgeheim wünsche ich mir ja, auch einmal so richtig doof zu sein, und sei es nur für einen Tag. Einmal am eigenen Leib erfahren, wie befreiend es sein muss, stundenlang mit halboffenem Mund in die Gegend zu starren, ohne dass irgendein Gedanke dabei stört. Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung die einen ganzen Abend lang, unter ständigem Ausspucken, die leere Kaiserstraße hin- und herlaufen können, irgendwelche Dorf-Bratzen im Arm und literweise Tapeten-Kleister im Haar, so muss der intellektuellen Armut ein tiefer Friede innewohnen, der sie über jedes Peinlichkeitsgefühl erhaben macht. Es scheinen die Dummen zu sein, die das Glück gefunden haben.

Ich dagegen bin ein Gefangener der Konvention. Ich schäme mich, wenn man mich belächelt, weil ich in Bäckereien nicht klarkomme oder ich trotz jahrelangem Widerstand dann doch das badische Universal-Relativpronomen "wo" verinnerlicht habe. Zum Glück hält man mich hier trotzdem nicht für einen Badener. Die Leute hier sind gesegnet: Von einem Landstrich namens "Baden" haben die meisten Norddeutschen noch nie gehört. Und von Herrn Weisch auch nicht.

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(c) lutz frommberger, juli 2003

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