Kennt ihr Herrn Weisch, den berühmten Mathematiker? Der mit dem Satz
von Bolzano-Weiherstrass-Weisch? Der zählt noch zu meinen lebendigsten
Erinnerungen an die frühen 90er Jahre, als ich nicht nur das Vordiplom
zu meistern hatte, sondern auch noch eine neue Stadt in einem neuen
Landstrich mitsamt ihren Absonderlichkeiten. Dass ich damals noch
zumindest für 20 Pfennig mitdenken konnte, hat sich bezahlt gemacht,
sowohl in Bezug auf das Vordiplom als auch auf meine Anfangserfolge im
Hinblick auf Integration. Aber es hat dennoch ein gutes Semester
gedauert, bis von meiner anfänglichen Bewunderung für einen so oft
zitierten Gelehrten wie Herrn Weisch nur ein Kopfschütteln
übrigblieb. "Ei des machsch am gschicktesde mit dem Satz von
Bolzano-Weiherstrass, weisch. Und danach nimmsch den Satz von Eudoxos,
weisch" - für den Neu-Badener können solche Sätze aus Tutoren-Mund im
katastrophalen Missverständnis enden.
Und das nicht nur im akademisch-badischen, sondern auch im
kulinarisch-badischen Umfeld. Für immer prägend waren die
vergeblichen Versuche, am Werderplatz anstatt eines
fassungslos-strafenden Blicks seitens der Bäckereifachverkäuferin
zwei ordinäre Brötchen zu bekommen. Diese Service-Dienstleistung war
zwingend verbunden mit der Nennung der Backware im regional
gebräuchlichen Idiom - allein der Hunger zwang mich zu dessen
Aneignung: nicht landesübliche Bestellungen wurden mit Ignoranz
bedacht. Wobei sich die Geheimnisse der badischen Brötchen-Vielfalt
mir bis zum bitteren Ende nie ganz erschlossen, was aber auch gar nicht
nötig war. Die Regeln sind nämlich einfach: zwei bis drei Silben lang
etwas Beliebiges vor sich hinnuscheln, auf "-pselesweck" (für
Brötchen) oder "-psele" (für sonstige Waren) enden und dabei schön
langsam "Tatüüü-tataaa" denken. Das reicht für fast jede Art der
Bestellung vollkommen aus. Gezieltes Draufzeigen, wie im letzten Urlaub
erlernt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, das Gewünschte zu
erhalten. Das "Tatütata" hilft zwar beim Simulieren des allgemein
üblichen Singsangs, aber es ist eine Krücke: Die nervende Penetranz
der Eingeborenen-Sprache wird man so nie erreichen.
Den besten Anschauungsunterricht dazu gibt es in Straßenbahnen, da, wo
sich das Pack tummelt: Nur echte Badener können mit Kaugummi im Mund
und Telefon in der Hand lauthals "Naddddiiiiieeen" durch die Bahn
plärren und dabei das Kunststück vollbringen, diesen Namen auf der
ersten Silbe zu betonen und dann Deutschlands kürzestem "d" das
längste "i" der Welt folgen zu lassen. Das ist phonetisch eigentlich
unmöglich, aber, wie so viel Unmögliches, in Baden gängige
Praxis. Die vollkommene Unfähigkeit, ein französischstämmiges Wort
auch nur annähernd französisch klingend auszusprechen, ist
wahrscheinlich ein Abgrenzungsritual gegenüber dem Erbfeind. Das
würde auch ein weiteres Rätsel lösen: Die oft vorgebrachte
Bezeichnung der Badener als "frankophon" war ein akustischer
Übertragungsfehler. Es muss "frankophob" heißen.
Ich bin ja jetzt nach Becksbier-City gezogen und schon wieder komplett
überfordert. Es ist grausig: Wenn ich in der Bäckerei meiner mühsam
antrainierten Gewohnheit folgend einen Wunsch äußere, erhalte ich
neben den Brötchen vor allem Mitleid. Und die Straßenbahnen haben
auch ihren integrativen Charakter eingebüßt. Zwar ist die
ÖPNV-Begeisterung der Deppen hier mindestens genauso hoch, und sie
sind auch genauso dämlich wie ihre Karlsruher Kollegen, aber sogar die
Küsten-Deppen sprechen hochdeutsch. Das hat dann zur Folge, dass man
deren in Worte gegossenen Stumpfsinn sogar verstehen kann, nein, sogar
muss. Und das ist viel unangenehmer. Insgeheim wünsche ich mir ja,
auch einmal so richtig doof zu sein, und sei es nur für einen
Tag. Einmal am eigenen Leib erfahren, wie befreiend es sein muss,
stundenlang mit halboffenem Mund in die Gegend zu starren, ohne dass
irgendein Gedanke dabei stört. Wenn ich sehe, mit welcher Begeisterung
die einen ganzen Abend lang, unter ständigem Ausspucken, die leere
Kaiserstraße hin- und herlaufen können, irgendwelche Dorf-Bratzen im
Arm und literweise Tapeten-Kleister im Haar, so muss der
intellektuellen Armut ein tiefer Friede innewohnen, der sie über jedes
Peinlichkeitsgefühl erhaben macht. Es scheinen die Dummen zu sein, die
das Glück gefunden haben.
Ich dagegen bin ein Gefangener der Konvention. Ich schäme mich, wenn
man mich belächelt, weil ich in Bäckereien nicht klarkomme oder ich
trotz jahrelangem Widerstand dann doch das badische
Universal-Relativpronomen "wo" verinnerlicht habe. Zum Glück hält man
mich hier trotzdem nicht für einen Badener. Die Leute hier sind
gesegnet: Von einem Landstrich namens "Baden" haben die meisten
Norddeutschen noch nie gehört. Und von Herrn Weisch auch nicht.
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