Meine Damen und Herren,
an dieser Stelle vor vier Jahren eröffnete Willy Brandt den ersten
gesamtdeutschen Bundestag. Ich habe zur Vorbereitung der meinen, seine
Rede vor kurzem noch einmal gelesen und mit Bedauern festgestellt, daß
sich nicht alles von dem was ihm vorschwebte erfüllt hat. Willy Brandt hat
uns verlassen. Doch wir stehen, meine ich, immer noch in seiner Pflicht.
(Beifall) - Danke Ihnen.
An dieser Stelle stand auch im gefahrvollen Jahre 1932 Clara Zetkin und
eröffnete den damals neugewählten Reichstag. Wir wissen was aus dem
Reichstag wurde, dessen Sitzungsperiode diese hochherzige Frau damals auf
den Weg brachte. Zum Reichstagspräsidenten wurde Hermann Göring gewählt
und der Kanzler, den jener Reichstag ernannte, hieß Adolf Hitler. Und fast
zweihundert der Reichstagsmitglieder gerieten in Gefängnisse und
Konzentrationslager. Über die Hälfte davon starben eines gewaltsamen
Todes. Und das Reichstagsgebäude in dem wir uns heute befinden brannte.
Ich selber habe den Brand gesehen. Kurz darauf mußte ich Deutschland
verlassen und sah es erst in amerikanischer Uniform wieder. Ein
Überlebender. Und kehrte Jahre später dann in den östlichen Teil des
Landes zurück, in die DDR. Wo ich auch bald in Konflikte geriet mit den
Autoritäten. Und wenn einer wie ich, mit dieser Lebensgeschichte sich
jetzt von hier aus an Sie wenden und den dreizehnten Bundestag, den
zweiten des wiedervereinten Deutschland eröffnen darf, so bestärkt das
meine Hoffnung, das unsere heutige Demokratie doch solider gegründet sein
möchte, als es die Weimarer war. Und das diesem Bundestag wie auch jedem
künftigen ein Schicksal wie das des letzten Reichstags der Weimarer
Republik erspart bleiben wird.
Wir werden keine leichte Zeit haben in den nächsten vier Jahren. Es werden
Entwicklungen auf uns zukommen, auf welche die wenigsten von uns, schätze
ich, sich bisher eingestellt haben und um die wir uns nicht werden
herumschwindeln können.
Wie sagte doch Abraham Lincoln, der große amerikanische Präsident: Ein
Teil der Menschen können sie die ganze Zeit zum Narren halten und alle
Menschen einen Teil der Zeit aber nicht alle Menschen die ganze Zeit.
Die Krise in welche hinein dieser Bundestag gewählt wurde, ist ja nicht
nur eine zyklische, die kommt und geht, sondern eine strukturelle,
bleibende und dieses weltweit.
Zwar hat die Mehrheit der davon betroffenen Völker sich von der hemmenden
Last des Stalinismus und Poststalinismus befreit. Aber die Krise von der
ich sprach, eine Krise nunmehr der gesamten Industriegesellschaft, tritt
dadurch nur um so deutlicher in Erscheinung. Wie lange wird der Globus
noch, der einzige den wir haben, sich die Art gefallen lassen wie diese
Menschheit ihre tausenderlei Güter produziert und konsumiert? Und wie
lange wird die Menschheit die Art gefallen lassen wie diese Güter verteilt
werden.
Der dreizehnte Bundestag wird die Probleme, die sich aus diesen zwei
Fragen ergeben nicht lösen können. Aber er kann ihre Lösung in Angriff
nehmen. Die Herausforderung akzeptieren.
Deutschland und gerade das vereinigte, hat eine Bedeutung in der Welt
gewonnen der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen. Den es geht
nicht darum unser Gewicht vornehmlich zum unmittelbaren eigenen Vorteil in
die Waagschale zu werfen, sondern das überleben künftiger Generationen zu
sichern.
Brecht schrieb: Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch
Verstand, das ein gutes Deutschland blühe wie ein anderes gutes Land. Das
die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin, sondern ihre Hände
reichen uns die andren Völker hin und nicht über und nicht unter andern
Völkern wolln wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum
Rhein. Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wirst. Und
das liebste mags uns scheinen so wie andern Völkern ihrst.
Arbeits- und Obdachlosigkeit, Pest und Hunger, Krieg und Gewalttat,
Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes begleiten uns täglich.
Dagegen sind auch die besten Armeen machtlos. Hier braucht es zivile
Lösungen, politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle.
Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten. Entschulden wir Sie.
Und nicht die Flüchtlinge die zu uns drängen sind unsere Feinde, sondern
die die sie in die Flucht treiben.
Toleranz und Achtung gegenüber jedem einzelnen und Widerspruch und
Vielfalt der Meinungen sind von nöten. Eine politische Kultur mit der
unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein
geeintes freies friedliches Europa.
Und benutzen wir die Macht die wir haben, die finanzielle vor allem, weise
und mit sensibler Hand. Macht, wie wir wissen, korrumpiert und absolute
Macht korrumpiert absolut
Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert
Solidarität zunächst im eigenem Lande. West - Ost. Oben - Unten. Reich -
Arm. Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche
Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht weil ein jeder als erstes
Ausschau hielt nach den materiellen Vorteilen, die die Sache ihn bringen
würde. Den einen Märkte, Immobilien, billigere Arbeitskräfte, den andern
bescheidener - harte Mark und ein grenzenloses Angebot an Gütern und
Reisen.
Zuwenig wurde nachgedacht über die Chancen die durch die Vereinigung
unterschiedlicher Erfahrungen, positiver wie negativer, sich für das
Zusammenleben und die Entwicklung der neuen alten Nation ergeben könnten
und wie ich hoffe noch immer ergeben können.
Es wird diesem Bundestag obliegen, dafür zu sorgen, das die mit der
Einheit zusammenhängenden Fragen nicht länger in erster Linie ins Ressort
des Bundesfinanzministers fallen.
Die gewaltlose Revolution vom Herbst 1989 hat den Menschen der alten
Bundesländer Möglichkeiten zur neuen Expansion gebracht und denen der Ex-
DDR Rechte und Freiheiten, die keiner von Ihnen mehr missen möchte und
die, ich betone das ausdrücklich, sie sich selber erkämpften.
Und diejenigen DDR-Bürger die die Waffen zur Erhaltung des ungeliebten
Systems besaßen waren zurückhaltend genug auf deren Anwendung zu
verzichten. Und dieses sollte, so meine ich, bei ihrer künftigen
Beurteilung zumindest mit in Betracht gezogen werden.
Die Vergangenheitsbewältigung von der heute um der Gerechtigkeit willen so
viel die Rede ist, sollte eine Sache des ganzen deutschen Volkes sein.
Damit nicht neue Ungerechtigkeiten entstehen, aber vergessen wir dabei
nicht, daß die Jahrzehnte des kalten Krieges, welche uns die Spaltung
Deutschlands mit samt der schrecklichen Mauer und deren Folgen brachten,
historisch gesehen, das Resultat des Naziregimes war und des zweiten
Weltkriegs, der von diesem ausging.
Die Effizienz des Westen, seine demokratischen Formen und andere
Qualitäten des Lebens dort, die zum Nutzen der Ostdeutschen zu übernehmen
wären liegen zu tage. Aber umgekehrt?
Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die
gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Der
gesicherte Arbeitsplatz vielleicht, die gesicherte berufliche Laufbahn,
das gesicherte Dach übern Kopf. Nicht umsonst protestieren ja zahllose
Bürger und Bürgerinnen der Ex-DDR dagegen, das die Errungenschaften und
Leistungen ihres Lebens zu gering bewertet und kaum anerkannt oder gar
allgemein genutzt werden. Unterschätzen Sie doch bitte nicht ein
Menschenleben, indem trotz aller Beschränkungen das Geld nicht das all
entscheidende war. Der Arbeitsplatz ein Anrecht von Mann und Frau
gleichermaßen. Die Wohnung bezahlbar und das wichtigste Körperteil nicht
der Ellenbogen.
Ich weiß sehr wohl das man positives aus Ost und West nur schwer
miteinander verquicken kann. Wir haben jedoch solange mit
unterschiedlichen Lebensmaximen in unterschiedlichen Systemen gelebt und
überlebt, das wir jetzt auch fähig sein sollten mit gegenseitiger Toleranz
und gegenseitigem Verständnis unsere unterschiedlichen Gedanken in der
Zukunft einander anzunähern.
Das setzt allerdings voraus, das den Menschen ihre Ängste genommen wird.
Den Westdeutschen, der Osten könnte sie ihre Ersparnisse und ihre
Arbeitsplätze kosten. Den Ostdeutschen, der Westen könnte sie ihre Häuser
und Wohnungen und stückchen Landes berauben und ihre Jobs dazu. Ihre
Berufsabschlüsse nicht anerkennen und ihre Rentenansprüche aus
irgendwelchen Gründen kürzen. Ängste? Wie oft sind es schon traurige
Realitäten. Also lassen sie uns solche Realitäten ändern.
Und diese Annäherung im Denken setzt ferner voraus, das die Regierung
eines so reichen Landes wie es die jetzt vereinte Bundesrepublik ist,
ernsthafte und vor allem wirksame Bemühungen unternimmt Arbeitsplätze zu
schaffen. Selbst wenn kein Investor neue Profite aus solchen Bemühungen
schlagen kann. Massenarbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, das haben
ihre Eltern vor Jahren schon durchleben müssen, zerstört die gesamte
Gesellschaft und treibt das Land in den Abgrund. Die Menschen erwarten von
uns hier das wir Mittel und Wege suchen, die Arbeitslosigkeit zu
überwinden, bezahlbare Wohnungen zu schaffen, der Armut abzuhelfen und im
Zusammenhang damit Sicherheit auf den Straßen und Plätzen unserer Städte
und in den Schulen unserer Kinder zu garantieren. Und jeder Mann und jeder
Frau den Zugang zu Bildung und Kultur zu öffnen.
Das heißt, die Menschen erwarten das wir uns als wichtigstes mit der
Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse und der Erhaltung
unserer Umwelt beschäftigen. Die Vorstellungen in diesem Hause dazu mögen
weit auseinander klaffen. Lassen Sie uns ruhig darüber streiten.
Doch in einem werden wir hoffentlich übereinstimmen: Chauvinismus,
Rassismus, Antisemitismus und stalinsche Verfahrensweisen sollten für
immer aus unserem Lande gebannt sein. (Beifall)
Dieser Bundestag wird derlei nicht völlig verhindern können. Aber er kann
dazu beitragen ein Klima zu schaffen, in dem Menschen die solch verfehlten
Denkweisen anhängen, der öffentlichen Ächtung verfallen. All dieses jedoch
kann nicht die Angelegenheit nur einer Partei oder einer Fraktion sein. Es
ist nicht einmal die Sache eines Parlaments nur, sondern die aller
Bürgerinnen und Bürger, West wie Ost.
Und wenn wir von diesen moralisches Verhalten verlangen und Großzügigkeit
und Toleranz im Umgang miteinander, dann müssen wir wohl als ihre
gewählten Repräsentanten mit gutem Beispiel vorangehen. Und just darum
plädiere ich dafür, das die Debatte um die notwendigen Veränderungen in
unserer Gesellschaft Sache einer großen, bisher noch nie dagewesenen,
Koalition werden muß. Einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der
Vernünftigen voraussetzt.
In diesem Sinne eröffne ich den dreizehnten Deutschen Bundestag und
wünsche uns allen Glück für unsere gemeinsame Arbeit. (Beifall)
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